Bei diesem Wetter gibt’s kein Halten mehr, da zieht’s einfach jeden nach draußen. Muttervatterkinderomaopahund, egal ob se wollen oder nicht, heute wird gewandert! Mal was zusammen machen, so in Familie und so. ‚Papa kauft dir auch eine Wurst, wenn wir da sind. Jaha, und ne Fanta.‘
Hat sich der ganze Troß dann erstmal unter nicht enden wollenden Strapazen die knapp 350 Höhenmeter zum „Gipfel“ gequält, hat man sich jetzt auch mal richtig ne Belohnung verdient. Eine „Stärkung“. Also alle ruff auf die nächste Parkbank (‚Nee hömma, Omma muß auch sitzen, hasse denn gar keine Manieren?‘), und dann zeigen die Eltern der an starkem Kevinismus erkrankten Sippe ihr wahres, blasses, mit Butter und Aufschnitt belegtes und in Papier eingeschlagenes Gesicht: Nix is mit Papa-gibt-ne-Wurst-aus. Knapp unter dem Gipfel ist plötzlich und unvermittelt die ganz persönliche Wirtschaftskrise ausgebrochen. Also auch keine kalte Fanta, dafür bekommt jeder einen großen Schluck aus der durchgeschüttelten Mineralwasserflasche.
Kevin und Janett gehen dann irgendwann spielen, während die Mutter von ihrem Parkbank-Thron verkündet, wie schön es doch hier ist. Und in de Sonne und so. Nur für den Fall eben, daß es jemand der Anwesenden nicht mitbekommen hat, warum man sich hier erst hochquälen mußte, um sich hier oben schließlich genauso wortkarg wie daheim auf der Wohnlandschaft „Berchtesgarden“ kapital anzuöden. Sie streckt und reckt sich, als sei sie gerade aufgestanden und offenbart dem aufmerksamen Beobachter eine gewaltige Achselbehaarung, die von den bewältigten Strapazen naß triefend die bleiche Haut kontrastiert.
Kevin wird davon keinen Schaden für seine Entwicklung als Mann nehmen, das scheint sicher, denn er tobt mit drei weiteren Halbstarken lärmend durchs benachbarte Unterholz. Janett pflückt lieber Blumen und flicht einen schiefen Kranz draus, das kann sie zwar nicht besonders gut, macht dabei aber immernoch eine bessere Figur als ihr Bruder mit den Chaoten im Gebüsch. Stolz wie Bolle kommt sie mit dem Blumenkranz aus der Wiese gestapft und präsentiert sich ihren Erzeugern. ‚Ey ich glaub es nich! Samma weissu denn nich, daß Löwenzahn gifitich is? Mensch wat lernt ihr eigentlich heut noch inne Schule?!‘ tönt die Mutter und die Oma pflichtet ihr bei. ‚Wo sommer dir denn jetzt ma die Hände waschen?‘ Ich persönlich denke ja, daß Janett zumindest erwartet hatte, daß sie ein mit mittelprächtigem Interesse ausgesprochenes Lob über ihr Bastelwerk erhält aber nö, Lob is heute aus.
Der Vater macht hingegen die ganze Zeit über nix. Außer rauchen halt. Er bekommt auch noch sein Fett weg: ‚Boah Mensch, nichma hier inne Natur kannstes sein lassen! Hat mich echt auf ma frische Luft gefreut!‘ Kevin und seine Zerstörer-Freunde haben mittlerweile entdeckt, daß man morsche Bäumchen prima umwerfen kann und den Rest dann durch Wippen und Durchbrechen auch noch kleingeschreddert bekommt. Dabei schreien sie, als gelte es, eine Horde Rebellen zu vertreiben. Worauf sich seine Mutter genötigt fühlt, ihn quer über die Wiese zu maßregeln: ‚Hömma Keviiiin, andere Leute kommen in den Wald, um ma n bißchen Ruhe zu haben! Die wollen nich die ganze Zeit euer Geschrei hörn!‘ -Stimmt nicht, lieber seins als das Geschrei seiner Mutter!
Bevor ich die Meute an diesem idyllischen Ort wieder loswerde, haben sie noch ein wahres Highlight dabei. Vielmehr der Kevin. Der gesteht nämlich kleinlaut seiner Mutter nach der zehnten Nachfrage, was denn sei, daß er mal müsse. Die Mutter hält mit ihrer Einschätzung zum Ernst der Lage nicht hinterm Berg und verkündet in bekannter Lautstärke, sodaß es auch der letzte anwesende Luftatmer zu Fuß oder Rad mitbekommt, er möge doch einfach kurz ins Gebüsch gehen, wenn er schon wieder müsse. Das „schon wieder“ ist Kevin ein rotes Tuch, das merkt man. Außerdem ist es sachlich falsch, denn er muß nicht „schon wieder“. Er muß was ganz anderes. ‚Ich muß aber groß!‘ insistiert er. ‚Ja herrjeh, warum biste denn nich daheim gegangen? Geh doch ins Gebü-hüsch, ich hab auch Papierservietten dabei. Und die Oma hat sogar noch Taschentücher! Ach jetzt stell dich nicht an, Mensch. Glaubste, dir guck hier einer was ab oder was?‘ Erstaunlich, aber ich erinnere mich plötzlich an ähnliche Szenen aus meiner Kindheit, als ich in das vor Scham rot anlaufende Gesicht des kleinen Kevin schaue. Und darum weiß ich auch, daß er nicht erst seit zweieinhalb Minuten muß. Kinder sagen sowas nämlich immer erst zwei vor zwölf.
Entrüstet über das ihm entgegengebrachte Unverständnis oder sich einfach nur ob der hemmungslosen, lautstarken Mitteilungsfreude seiner Mutter totschämend, greift Kevin zum letzten Mittel. Er kann das hier heute ohnehin nicht mehr basisdemokratisch lösen, also wählt er den guten alten Sitzstreik, um seiner Meinung Ausdruck zu verleihen und dem Trotz auch seinen Auftritt zu gönnen. Seine Familie geht derweil los, entfernt sich ein wenig vom sitzstreikenden Kevin, als Janett dessen Fehlen bei der Mutter reklamiert. ‚Der kommt schon nach‘, tönt sie, ‚spätestens wenn der erste Pupps kommt, kommt der ganz schnell nach!‘
Köstlich, Du solltest unter die Schreiber gehen: veröffentlichen! Ich habe Deine scharfe Beobachtung und Deine gezielten Formulierungen (Sprache) immer sehr geschätzt, und es macht Spaß, das – speziell dieses – zu lesen. -Dazu dann noch ein verrückrtes Foto….